Heilpflanze des Jahres 2023: Weinrebe – Vitis vinifera

Schnapsidee oder Resultat eines weinseligen Abends: die Wahl des Weinstocks als Heilpflanze des Jahres durch den NHV?

Nach dem Zeitalter einer gefühlt unendlichen Pandemie scheinen nun die Jahre der Inflation angebrochen zu sein. Der Begriff inflationär umschreibt eine unverhältnismässige Mengenvermehrung ohne entsprechende Gegenwerte, was einen absoluten Wertverlust nach sich zieht. Die verheerenden Folgen werden entweder im Porte­mon­naie oder im Sprachgebrauch spürbar. Inflationär, so scheint es jedenfalls, entwickeln sich die alljährlichen Auszeichnungen zur Blume, zum Kraut, zur Pflanze des Jahres diverser pflanzenkundlicher Vereine im deutschsprachigen Raum. Das hat ganz unweigerlich zur Folge, dass den berufenen Gremien irgendwann der Stoff ausgeht und Ideenlosigkeit um sich zu greifen scheint. Anders ist die Wahl der Weinrebe zur Heilpflanze des Jahres seitens des Vereins zur Förderung der naturgemäßen Heilweise nach Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus e.V. (NHV Theophrastus) nicht zu erklären. Die Begründung der Wahl ist inhaltlich dünn und wirft Fragen auf. Zudem scheint fragwürdig, wem die Wahl des Weins als Heilpflanze des Jahres mehr dienen soll: einer verstärkten Sicht auf das Potenzial der Pflanze oder dem Verein?

Inhalt der Pressemitteilung:

Die Weinrebe ist die „Heilpflanze des Jahres“ 2023.

Das gab der Verein NHV Theophrastus bekannt. Mit der Weinrebe (Vitis vinifera) rückt eine Pflanze in den Mittelpunkt, die Arznei und Genuss verbindet. „Der Wein ist ein Gottesgeschenk. Und ich spreche von der gesamten Pflanze, nicht nur vom edlen Tropfen!“ betont Konrad Jungnickel, Heilpraktiker und Vorsitzender des Wahlgremiums. „Der Weinstock hält besonders in seinen Früchten und Kernen, ja selbst in seinen Blättern, eine Fülle heilkräftiger Stoffe für uns bereit.“ Rote Weinblätter sind anerkannt in der Behandlung von Venenleiden, Traubenkerne und -schalen besitzen unter anderem antioxidative und somit zellschützende Polyphenole. Der Wein ist, wie viele weitere Gewächse, ein wahrer Naturschatz.

Mit der „Heilpflanze des Jahres“ stärkt der NHV Theophrastus bereits seit 2003 die Bekanntheit gesundheitsfördernder und heilender Pflanzen. Traditionell verkündet wird die Wahl auf dem Heilkräuter-Fachsymposium des „Sächsischen Landeskuratoriums Ländlicher Raum e.V.“.


Quelle:

https://nhv-theophrastus.de/site/index.php?option=com_content&view=article&id=332:pressemitteilung-heilpflanze-des-jahres-2023&catid=36:pressetexte&Itemid=56

Google-Trends gilt als sicheres Barometer, was die Menschen draussen tatsächlich interessiert. Der Weinstock gehört jedenfalls nicht dazu. Die Sucheingaben für Wein sind seit langem stabil. Suchanfragen zu Weinlaub sind jedenfalls für die Füsse und somit thematisch passend. Wer jedoch aufmerksam die Such-Trends studiert, dem zeigt sich ein zunehmendes Interesse an Heilpflanzen und -kräutern im Allgemeinen. Parallel dazu generieren eine ganze Reihe von nicht allzu bekannten einheimischen Kräutern und deren zum Teil verborgenen Potenzialen ein deutliches Mass zunehmender Aufmerksamkeit in den Suchmaschinen. Weshalb aber die namhaften Experten-Vereine diese Kandidaten nicht in den Fokus nehmen und die damit verbundenen mannigfaltigen Fragen erörtern, liegt wohl eher im Selbstverständnis der Gremien selbst verankert.

Rotes Laub gegen schwere Beine

Extrakte aus Rotem Weinlaub sind anerkannt als traditionelles pflanzliches Heilmittel. Es sind die Blätter roter Trauben bildender Weinstöcke, in denen sich wertvolle Inhaltsstoffe wie anthozyanide Flavonide, Querzitin, Rutin, Kaempferol, Polyphenole, Gerbstoffe, Wein-, Apfel- und Oxalsäure verbergen. Die aus ihnen gewonnen Extrakte können hilfreich bei venös bedingten Durchblutungsstörungen in den unteren Extremitäten sein. Schwere Beine, Venenschwäche und Durchblutungsstörungen sind typische Erkrankungen der Wohlstandsgesellschaft. Umstellung von Lebensgewohnheiten, mehr Bewegung und Nutzung natürlicher Heilmittel sind Alternativen, die dem entgegenwirken können. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet haben die roten Blätter des Weinstocks auf jeden Fall mehr Aufmerksamkeit verdient!

Den wenig geliebten Kernen in den Weintrauben gedenkt der Theophrastus-Verein eine neue Rolle zu. Er surft damit auf der Trend-Welle, die ein Superfood nach dem anderen in die Wahrnehmung der Verbraucher schwemmt, als ob die Menschen in der westlichen Hemisphäre an Mangelernährung litten.

Nahrungsergänzungsmittel versus pflanzliche Heilmittel

Es geht um das Traubenkernmehl, das reich an oligomere Proanthocyanidine sein und demnach antioxidativ wirken soll. Hierbei sei angemerkt, die oligomeren Proanthocyanidine kommen in einer Vielzahl von Pflanzen und besonders in Früchten von Holzgewächsen vor. Daraus leitet sich die Frage ab, wieso Traubenkernöl so gehypt wird? Tatsächlich besitzt es einen enorm hohen Anteil an den oligomeren Proanthocyanidinen. Allerdings ist bis heute nicht geklärt, inwiefern der hohe Gehalt des Traubenkernmehls tatsächlich einen Beitrag zur Förderung der menschlichen Gesundheit leisten kann. Allein ein hoher Gehalt an Wirkstoffen reicht bekanntlich nicht aus, wenn der Körper diese nicht verwerten kann. Bioverfügbarkeit ist das Stichwort. Traubenkernmehl ist lediglich ein Nahrungsergänzungsmittel. Es besteht eine ganz klare Trennlinie zwischen pflanzlichen Heilmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln. Hier wäre es wünschenswert und hilfreich gewesen, wenn der Verein auf eben diese definierte Trennung eingegangen wäre und sie hervorgehoben hätte. Die fortlaufende Vermischung und Verwässerung der Trennlinie ist im Augenblick eines der grössten Hindernisse in der Diskussion um die Anerkennung weiterer Heilpflanzen. Die Probleme bei der Zulassung pflanzlicher Heilmittel liegen in allererster Linie im Mangel an wissenschaftlicher Forschung und verwertbarer klinischer Daten. Marktbeschleunigende Massnahmen und permanentes Abspulen merkantiler Botschaften sind förderlich für Erzeuger und Anbieter, lassen aber den Verbraucher orientierungslos zurück. Am Ende ist das Geschrei wieder gross, dass da eine grosse Lobby sei, die alles verhindert. Dabei hätte gerade die Pflanzenheilkunde eine starke Lobby verdient!

Traubenkernöl ist wieder in Mode gekommen. Im Vergleich mit anderen Speiseölen bleibt es im Gehalt von Vitaminen, Nährstoffen und verwertbaren Fetten hinter anderen Pflanzenölen zurück. Zunehmende Beliebtheit erfreut sich Traubenkernöl bei Köchen. Es ist relativ hitzestabil, hat einen hohen Rauchpunkt und wird daher vorzugsweise zum Braten und Frittieren verwendet.

Hildegard wird’s schon richten

Zahlreiche Rezepturen Hildegards von Bingen basieren auf Heilweinen. Die inhaltliche Brücke zwischen Hildegard und der Heilpflanze des Jahres 2023 lässt sich relativ leicht schlagen. Mit der Heiligen aus Bingen zu argumentieren scheint relativ unverdächtig, ist aber wie so oft eines der bekannten und oft bemühten Trojanischen Pferde, die für den Transfer verkorkster Ideen bemüht werden. Sie wird zwar nicht in der Laudatio namentlich erwähnt, aber die Assoziationen legen es nahe. Obgleich eine Reihe von pflanzlichen Wirkstoffen am besten mit alkoholischen Auszügen zugänglich gemacht werden, sollte deshalb dem Wein besondere Ehren und Aufmerksamkeit zuteil werden? Das Problem ist und bleibt der Alkohol, der die Anwendbarkeit bei Kindern limitiert und für nicht wenige unserer Mitmenschen problematisch ist. Darüber sollten wir bei aller Begeisterung für Hildegards Heilwissen und die Freude am Ausprobieren nicht die Augen verschliessen. Auch ist es nicht fair, Hildegard von Bingen auf das Panschen von Wein und Backen von Dinkelbroten zu reduzieren. Es wäre schlichtweg falsch!

Aus den dunklen Trauben des Weinstocks wird der Rotwein gekeltert.

„Der Wein jedoch, der vom Weinstock kommt, macht, wenn er rein ist, dem der ihn trinkt, gutes und gesundes Blut, …“

HILDEGARD VON BINGEN

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