
Man weiss es nicht ganz genau, wann die Rauhnächte beginnen, und wann sie enden. Nur eines ist gewiss: die einen beschreiben sie als die zwölf Tage nach Weihnachten, die anderen als zwei Tage vor und nach dem Jahreswechsel. Um die Deutungshohheit kämpfen generationsübergreifend Esotheriker mit Volkskundlern, Wellness-Propheten mit Mythologen. Kalendarisch sind die Rauhnächte von zwei wesentlichen Fixpunkten begrenzt: am 21. Dezember mit der Wintersonnenwende und dem Hochneujahr am 6. Januar. Es ist der Tag des Epiphanias-Festes. Im mediterranen Süden endet an diesem Tag für die Kinder das Warten auf ihre Weihnachtsgeschenke. Hingegen im Norden ziehen die Sternsinger den „Heiligen drei Königen“ gedenkend durch die Gemeinden und segnen dabei mit den Kreidemarkierungen *C+M+B* die Häuser.
Wintersonnenwende und Hochneujahr
Die Wintersonnenwende markiert nicht nur den offiziellen Anfang des Winters, sondern sie ist zugleich auch der kürzeste Tag und die längste Nacht des Jahres. In der Natur zieht Ruhe ein. Der Winter und die Kälte haben das Sagen. Die Ernten sind eingebracht. Der Most ruht in den Krügen. Das Holz für den kalten Winter ist gesammelt und gespalten. Viel mehr Arbeit, als das liebe Vieh zu versorgen, Brot zu backen, sich um den Ofen oder Herd zu versammeln, dem Knacken des Feuers, den Geschichten der Alten zu lauschen, blieb während dieser kalten und dunklen Tage der Landbevölkerung nicht übrig. Die Rauhnächte waren schon immer eine Zeit, in der man viele Dinge ganz bewusst ruhen liess. Beispielsweise wusch man keine Wäsche, oder liess sie nicht auf der Leine hängen. Alle Geschäftigkeit des alten Jahres beendeten die Rauhnächte. Erst zu Hochneujahr wurden die grossen Tätigkeiten im Haushalt wieder aufgenommen. Die Menschen beschenkten sich selbst mit ein paar Tagen Ruhe.

Wissenschaftler definieren Schlaf als „einen der Erholung dienenden Zustand der Ruhe.“ Für die meisten Menschen steht für die kommenden Tage im Kalender: arbeitsfrei! Was hindert sie am kraftschöpfenden Faulsein, bewusstem Ausruhen und intensiven Nichtstun? Es ist erwiesen, dass während des Schlafes Stress- und Erregungszustände abgebaut werden. Davon profitieren alle Körperfunktionen, wie der Hormonhaushalt, das Immunsystem, die Verdauung und Stoffwechselvorgänge. Sind die Tage kurz, weil die Sonne spät aufgeht und bereits am Nachmittag die Dunkelheit zeitig zurückkehrt, gibt es wenig zu verpassen. Vielmehr lässt sich gerade die Zeit der Rauhnächte sinnvoll nutzen zum Entspannen und zur Erholung. Ganz ohne schlechtes Gewissen – im Einklang mit der Natur, die sich im winterlichen Ruhemodus befindet!
Schlafen
Ende der Siebzigerjahre trällerte Wenke Myhre den Ohrwurm „So ein Frühstück im Bett ist gemütlich und auch nett … .“ Tatsächlich ist die morgendliche Tasse Kaffee im Bett ein Luxus, den viele sich nur im Hotel oder auf Reisen gönnen. Wieso eigentlich? Ist es daheim nicht am Schönsten? Das eigene Bett und die eigenen vier Wände sind doch ein Hort der Gemütlichkeit! Das wohlige Ruhen in den Kissen hat überaus positive Wirkungen auf den Blutdruck und die Herzgesundheit. Ein körpereigener Mechanismus lässt nachts den Blutdruck sinken. Das entlastet das Herz, die Blutgefässe und das vegetative Nervensystem. In der Kombination mit tiefem Schlaf regenerieren völlig unbemerkt die wichtigsten Körperfunktionen. Mal so richtig Runterkommen, lädt die Batterie wieder auf, entspannt die Muskeln und Gefässe. Wenn es nichts Wichtigeres zu tun gibt, Dunkelheit, Nässe und Kälte nicht zum Verlassen des Hauses einladen, dann kann das eigne Bett zur Wellness-Oase werden – gerade während der Rauhnächte! Wer den Kaffee im Bett nicht mag, kann alternativ mit einer guten Tasse Kräutertee in den Tag starten. Anregungen und Tee-Rezepte gibt es in unserer Rubrik „Ratgeber“.

Geräuchert wurde schon immer und das in fast allen Kulturkreisen unserer Erde. Die Buddhisten bringen mit Räucherstäbchen Rauchopfer dar. Im Erzgebirge lässt man Räucherkerzchen in geschnitzten Holzfiguren abbrennen. Das duftet gut und sieht witzig aus, wenn aus der Mundöffnung eines hölzernen Wichtels Rauchkringel aufsteigen. Während katholischer Messen wird eindrucksvoll mit Weihrauch und Myrrhe inzensiniert – so heisst der Fachbegriff. Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) verbrennt vielerlei Kräuter zur Heilung von diversen körperlichen Störungen – man nennt das Moxibustion. Das Räuchern blieb nicht nur Priestern, Schamanen und Heilern vorbehalten. Metzger würzen und konservieren mit dem Rauch ausgewählter Hölzer die Würste, den Speck und Schinken. In zahlreichen raffinierten Parfümkreationen akzentuiert eine dezente Weihrauchnote den Wohlgeruch.
Räuchern
Für unsere Vorfahren war das rituelle Abbrennen von Kräuterwerk oftmals das einzige Mittel zum Vertreiben von Krankheiten, Schädlingen, Dämonen und anderem Unheil. Es war vielfach die einzige Möglichkeit dem Bösen und Schlechten praktisch etwas entgegen zu setzen. Viele vertrauten auf metaphysische Verbindungen zwischen dem Hier und einer jenseitigen Welt. Manch einer sieht beim Räuchern in den sich kringelnden Wölkchen und Schwaden wallende Barrieren gegen unsichtbare böse Geister. Mit dem traditionellen Räuchern von Gebäuden, Räumen, Gegenständen und Familienmitgliedern begegnen wir der uns innewohnende Angst vor Krankheit, Verlust und Tod. Alle Zeremonien und Rituale haben an sich schon eine heilende Wirkung, weil man sich aktiv mit der Bedrohung auseinandersetzt und dem entgegenwirkt. Das Gefühl der Hilflosigkeit wird ersetzt durch Hoffnung, Zuversicht und positive Energien. Tatsächlich werden beim Räuchern nicht nur Stoffe und Verbindungen freigesetzt, welche die Psyche positiv beeinflussen. Es gibt durchaus einige Belege für die Wirksamkeit der Dämpfe gegen Keime und Schädlinge. Wenn die Bauern beispielsweise in den Rauhnächten die Ställe räuchern, lenken sie in aller Ruhe die Aufmerksamkeit auf das, was sie nährt, vertreiben ungebetene Gäste und halten Krankheiten fern. Es ist ein Zeichen der Wertschätzung und Ausdruck ihres Willens, das alles für ihre Zukunft und für die Familie zu erhalten. Geistig und emotional richten sie sich ganz auf das Wohlbefinden ihres lieben Viehs aus. Beliebt ist das Abbrennen von Beifuss, Wachholder, Zedernspänen und Fichtenzweigen. Wir können das auch tun, in dem wir behutsam die Wohn- und Küchenräume beräuchern, Abschied nehmen von belastenden Dingen und Erinnerungen aus dem alten Jahr – und acht geben, dass der Rauchmelder nicht anspringt!

Zünden wir eine Kerze an. Wie sehr haben wir uns auf die Tage gefreut, an denen wir es uns in aller Ruhe bei Kerzenlicht daheim gemütlich machen können. Weil wir aber keine Zeit haben, auf eine Kerze aufzupassen, haben wir sie praktischerweise mit einem flackernden LED-Lämpchen ersetzt. Ja, Kerzen sind wirklich gefährlich. Es handelt sich um eine offene Flamme. Man kann sie nicht unbeaufsichtigt lassen. Wir haben Wichtigeres zu tun, als eine Kerze beim Abbrennen zu beobachten. Dabei hatten wir uns so gefreut, endlich eine Kerze anzuzünden und in ihre Flamme zu schauen. Zur Ruhe zu kommen. An nichts anderes zu denken. Nur die brennende Kerze zu beobachten.
Meditieren
Verrenkungen der Gliedmassen, unbequeme Körperstellungen sind beim Meditieren vollkommen überflüssig, wie auch kunstvolle Gesänge oder die peinliche Einhaltung von Ritualen. Das Fokussieren auf die eigenen Gedanken braucht keine Regeln, Gurus, Vorschriften und Zwänge. Die eigenen Gedanken sind frei! Doch stecken sie oft in einem Gefängnis aus Verpflichtungen, Gewohnheiten, vermeintlichen Verboten, Unterordnung. Die Gedanken wollen fliegen! Oftmals sind sie gefangen in einem Käfig aus Scham, Feigheit und falscher Ergebenheit. Die Gedanken wollen fliessen! Wie soll das gelingen bei Dämmen gebaut aus Zeitnot, Überforderung und Müdigkeit? Zünden wir eine Kerze an! Schenken wir uns die Zeit. Nehmen wir dankbar das Licht der Kerze an. Sie wird nicht ewig brennen. Auch ihre Flamme wird unruhig flackern. Doch sie ist ruhiger als alles, was uns bisher gehindert hat, sie anzuschauen.

Übrigens werden die Rauhnächte nicht als solche bezeichnet, weil sie besonders rauh, frostig oder von Witterungsunbilden durchzogen sind. Als rauh wurden sie bezeichnet, weil angeblich während dieser Tage das Geisterreich offen stünde und alles, was sich Geist, Dämon, Kobold nennt, auf der Erdoberfläche tummelt. Wahrscheinlich finden einige von ihnen den Weg nicht zurück. Am Ende sind sie es, die das ganze Jahr an unseren Nerven zerren. Irgendwann am Jahresende macht sich noch die Wilde Jagd auf den Weg. Heidnische Gottheiten versammeln sich am Himmel um stürmend ihrem Vergnügen nach zu gehen. Folgt man den Überlieferungen, ist es ungünstig, am Fenster zu stehen und dem Treiben zuschauen zu wollen. Manch einem soll dabei der Kopf angeschwollen sein. Alternativ dazu bietet sich ein Spaziergang bei frischer Winterluft und verbleibendem Tageslicht an.
Spazieren
Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens empfahl zur Einstimmung auf die Kontemplation, sich schreitend und betrachtend der Natur hinzugeben. Wäre seine Geburt fünfhundert Jahre später erfolgt, hätte er sich mit all den Achtsamkeits-LehrerInnen, Brainfood-AktivistInnen, Selbst-OptimiererInnen messen müssen. Möglicherweise wären er und seine bescheidenen Botschaften im Geschrei der Influencer-Community untergegangen. Seien wir dankbar, dass er so zeitig das Licht der Welt erblickte! Auch jetzt in den Wintertagen lässt sich vieles in der Natur entdecken. Egal, ob die Landschaft mit Schnee bedeckt ist, oder Schmuddelwetter herrscht. Frische Luft vertreibt so manchen schlechten Gedanken und hat so einige gute Ideen hervorgebracht. Ganz abgesehen von den Klimareizen, die unser Immunsystem stärken. Es müssen keine Gewaltmärsche sein. Mit jedem einzelnen Schritt schicken wir die wertvollen Sauerstoffmoleküle auf die Reise durch den ganzen Körper, fördern wir die Verdauung, erhaschen rares Tageslicht, das massgeblich die Stimmung verbessert. Vielleicht begegnen wir Menschten, die wir seit Langem nicht mehr gesehen haben. Vielleicht uns selbst?

Träume sind Schäume. Was man während der Rauhnächte träumt, das wird wahr! So sagte es jedenfalls die Grossmutter. Jedoch hatte sie niemals ihre Träume jemanden offenbart. Den Grund kennt keiner. So schlimm können sie nicht gewesen sein, denn die Zukunft, was heute die Vergangenheit ist, war am Ende halb so schlimm – für alle Beteiligten. Dennoch sind Träume ein untrüglicher Gradmesser für alles, was uns bewegt! Nachts im Schlaf hat das Gehirn die Möglichkeit, alles abzuarbeiten, wozu es tagsüber nicht kam. Das Produkt sind wirre, irre oder manchmal auch wunderschöne Sequenzen. Manche wollen wir sofort vergessen. Andere wollen wir in unsere Erinnerung förmlich einschweissen – dann sind sie plötzlich weg. Was bleibt sind Tagträume: ein kleiner Urlaub ohne Reisegepäck. Das gedankliche Abschalten von Stress, Ärger und Hektik. Wir dürfen – nein, wir müssen immer träumen! Besonders jetzt in einer ruhigen besinnlichen Zeit.
Träumen
Wer kennt das nicht? Nach einer arbeitsintensiven und stressigen Phase tritt in unserem Leben plötzlich Ruhe ein. Ist das nicht ein lähmendes Gefühl von Stillstand? Statt uns zurückzulehnen und den Moment zu geniessen, quälen wir uns mit Gedanken um „unerledigte“ Dinge. Wir lassen uns von Zielen und Erwartungen, die wir niemals uns selbst gesteckt haben, bedrängen. Auf Flucht vor unseren eigenen Gedanken und der Auseinandersetzung mit den Bildern in uns, beginnen wir oftmals den hektischen Aktivitätenkreisel von vorn: Staubsaugen am Sonntagnachmittag, Wäschewaschen mitten in der Nacht, Nachrichten checken oder Mitteilungen verfassen und versenden. Die Ruhe ist schwer auszuhalten, weil sie uns gnadenlos mit unserem eigenen Dasein, den eigenen Gedanken, Wünschen, Verlusten, Fähigkeiten und konfrontiert! Was passiert, wenn wir plötzlich den Sturm ums Haus rauschen hören, wenn Mäuse auf dem Dachboden Wettrennen veranstalten, das Parkett knackt und in der Vorratskammer geräuschvoll ein Beutel Reis umkippt? Wir hören es plötzlich! Wir nehmen es wahr! Die Ruhe schärft unsere Wahrnehmung und alle Sinne, die wir üblicherweise nicht nutzen. Das alles wäre auch passiert, ohne dass wilde Reiter mit dem Wind das Haus streifen, Geister auf dem Dachboden kegeln und im Vorratsschrank ihr Unwesen treiben, oder verborgene Seelen dem Holzfussboden Geräusche entlocken!